Zivilgesellschaft & Stiftungen
Das Aus der kritischen Zivilgesellschaft in Russland
Anfang April 2022 hat die russische Regierung mehrere internationale NGOs verboten. Neben den politischen Stiftungen sind auch anerkannte und renommierte NGOs darunter, wie „Human Rights Watch“ oder „Amnesty International“. Über den Zustand der Zivilgesellschaft in Russland sprach PHINEO mit Dr. Anke Giesen, Vorstandsmitglied von Memorial International und Deutschland. Die Organisation galt bis zu ihrem Verbot als eine der wichtigsten regierungskritischen NGOs in Russland.
Die russische Regierung hat im April weitere zivilgesellschaftliche Organisationen geschlossen. Was bedeutet die Schließung für die russische Gesellschaft?
Dr. Anke Giesen: Die Schließung der Stiftungen bedeutet für den kritischen Teil der russischen Gesellschaft, der aber leider nur um die 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht, dass regimekritische Organisationen für die Beförderung ihrer Anliegen nicht mehr auf eine ausreichende Finanzierung hoffen können. Das betrifft soziale Anliegen (Hilfe für Aidskranke) genauso wie Anliegen des Umweltschutzes oder der gesellschaftlichen Modernisierung (Anerkennung von LGBT-Lebensweisen, Gleichstellung der Geschlechter). Die Schließung von Think Tanks wie des Carnegie-Zentrums zieht eine weitere Verengung des politischen Diskurses nach sich, die Schließung von Amnesty, Human Rights Watch und des Menschenrechtszentrums von Memorial erschwert den Einsatz für die Einhaltung der Menschen- und Bürgerrechte. Damit hat der Kreml den öffentlichen Diskurs und die zivilgesellschaftliche Tätigkeit fast vollständig unter seine Kontrolle gebracht.
Ende Dezember wurde der internationale Dachverband von Memorial von Gerichten in Russland verboten. Wie hat die russische Bevölkerung die Schließung aufgenommen, ist das überhaupt ein Thema?
Dr. Anke Giesen: Die Schließung von Memorial International wurde nur von einer Minderheit in Russland zur Kenntnis genommen. Dort löste die Nachricht aber Entsetzen aus, da deutlich wurde, dass der Kreml damit der kritischen Zivilgesellschaft den Krieg erklärt hat und die Zeiten, in denen man zumindest in gesellschaftlichen Nischen seine Anliegen befördern konnte, vorbei sind.
Gibt es überhaupt noch eine regierungskritische Zivilgesellschaft in Russland?
Dr. Anke Giesen: Es gibt noch eine regierungskritische Zivilgesellschaft in Russland, deren Vertreter/-innen sitzen aber auf gepackten Koffern. Viele sind seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine schon ausgereist, da sie vor der dem Hintergrund der neuen Zensurgesetze ihre Verhaftung befürchteten.
Bedeutet die Schließung von NGOs eine dauerhafte Zerschlagung der Zivilgesellschaft oder vernetzen sich die bisher Aktiven der NGOs vielleicht und warten auf bessere Zeiten?
Dr. Anke Giesen: Die Angriffe zielen ja ausschließlich auf die kritische Zivilgesellschaft. Es gibt ja noch eine breite apolitische oder sogar regierungstreue Zivilgesellschaft, die nicht um ihr Bestehen fürchten muss, sondern im Gegenteil von russischen Stiftungen umfassend gefördert wird. Was die Vertreter/-innen der kritischen Zivilgesellschaft anbelangt: Sie waren bereits vor den Verboten gut vernetzt. Über VPN werden die Kontakte über soziale Medien und verschlüsselte Messenger auch nach Beginn der Internetblockaden weiter aufrecht erhalten. Auch in der Emigration bleibt man im Rahmen von Exil-Organisationen weiter aktiv und mit den in Russland verbliebenen Kolleg/-innen in Kontakt. Sollte es in Russland zu einem Machtwechsel kommen und das Land sich wieder auf den Weg der Demokratisierung begeben, werden nach meiner Einschätzung von den Exilorganisationen starke Impulse für die Entwicklung im Land ausgehen können.
Gibt es eine Möglichkeit, von deutscher Seite die Zivilgesellschaft in Russland zu stützen?
Dr. Anke Giesen: Ja, man kann natürlich mit den dort verbliebenen Aktivist/-innen den Kontakt halten und sie mit unabhängigen Informationen versorgen. Der Geldtransfer ist zurzeit stark erschwert, aber gewisse Kanäle existieren noch, über die man Organisationen auch noch finanziell unterstützen kann.
Der im April veröffentlichte „Atlas der Zivilgesellschaft“ der Organisation „Brot für die Welt“ ermittelte, dass nur drei Prozent der Weltbevölkerung in Ländern mit offener Zivilgesellschaft leben und demgegenüber zwei Drittel in autoritären Staaten oder Diktaturen. In der Tendenz ist die Zivilgesellschaft zunehmend beeinträchtigt. Warum ist die Zivilgesellschaft so schwach?
Dr. Anke Giesen: Die Zivilgesellschaft ist immer über ihre eingeschränkten Finanzierungsmöglichkeiten bedroht. Sie kann keine Steuern erheben und hat auch in der Regel nichts zu verkaufen, was das „große Geld” bringen würde. Sie ist daher über das Abschneiden von Finanzierungsmöglichkeiten extrem vulnerabel. Wie gut das funktioniert, hat Putin mit seinem Agentengesetz gezeigt, mit dessen Hilfe Organisationen und Personen in Russland, die für ihre Tätigkeit Geld aus dem Ausland erhalten, sich als „ausländischer Agent” ausweisen müssen. Damit ist man vor die Wahl gestellt, entweder auf kleinem finanziellen Niveau zu agieren oder mit dem Stigma „ausländischer Agent” den vorsichtigen und staatstreuen Teil der Gesellschaft nicht mehr zu erreichen.
Deutschland zählt zu den Ländern mit offener Zivilgesellschaft. Sehen Sie dennoch auch hier Gefahren für die Freiheit und wenn ja, welche?
Dr. Anke Giesen: Mir macht Sorgen, dass sich weite Teile der Gesellschaft von Narrativen beeindrucken lassen, in denen unsere Demokratie und unser Rechtsstaat in Frage gestellt werden. Immer mehr Personen verwechseln suboptimales Regierungshandeln mit einer nicht funktionierenden Demokratie, dabei liegt doch der Wert des Rechtsstaats darin, dass Regierungsentscheidungen, Gesetzeserlasse und Verwaltungshandeln gerichtlich angefochten werden können. Das Zusammenspiel der Gewalten, der Sinn des staatlichen Gewaltmonopols und einer freien Presse werden anscheinend in immer größer werdenden Teilen der Gesellschaft nicht verstanden. Dazu kommt in bestimmten Milieus die Überschwemmung mit „Fake-News” über die sozialen Medien. Zudem beobachte ich auch in Deutschland die Zunahme von Gruppierungen der sogenannten „unzivilen” Zivilgesellschaft: Gruppen, die Fake-News verbreiten, Hass schüren, die gesellschaftliche Modernisierung mit unlauteren Mitteln zurückdrehen wollen. Das alles sollte unser Bewusstsein dafür schärfen, dass Freiheit kein Gut ist, das, einmal errungen, für immer uns gehört, sondern dass der Erhalt von Freiheit und Demokratie ein immerwährender Prozess ist.
Information zu Memorial:
Memorial wurde vor 30 Jahren von dem Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow gegründet. Die Organisation arbeitete die Verbrechen der Stalin-Zeit auf und steht für ein offenes, menschenfreundliches Russland. Nachdem sich Memorial klar gegen den Umgang Putins mit seinen Kritiker*innen positioniert hat, wurde die Organisation Ende 2021 in Russland verboten. Die internationale Gesellschaft Memorial sowie der der deutsche Zweig, der Memorial Deutschland e. V., existieren weiterhin.