Wirkt-Siegel-Analyse
„Das ist mehr als nur ein Job!”
Jacob Rohm, Analyst bei PHINEO, ist voller Tatendrang am Beginn eines
neuen Projekts. Er soll herausfinden, wie die Situation von geflüchteten
Fauen in Deutschland aussieht. Rohm steckt noch nicht im Thema, aber so
viel ist ihm klar: Das Thema hat es in sich, denn trotz allerorten
beschworener Willkommenskultur gibt es viel zu tun! Kurz überschlägt der
Analyst im Kopf den Zeitplan: Ein paar Wochen haben sein Projektleiter
Dr. Andreas Schmidt und er Zeit, um Studien zu wälzen, mit Expert*innen
zu sprechen und das Projekt zu planen.
„Mir wurde bewusst, dass weibliche Geflüchtete in Deutschland mehrfacher Diskriminierung gleichzeitig ausgeliefert sind: als Frauen, als Ausländerinnen und als Personen mit unsicherem rechtlichen Status. Mir war klar: Das ist so nicht die Gesellschaft, in der ich leben will.“ (Jacob Rohm, PHINEO)
Ungefähr zur gleichen Zeit
beschleicht Selma Yilmaz-Schwenker in ihrem Büro in Berlin das Gefühl,
mal wieder unfreiwillig einen Marathon zu laufen. Yilmaz-Schwenker ist
Projektleiterin bei der gemeinnützigen Organisation I.S.I. e.V., die
Migrant*innen fit für die Selbstständigkeit macht.
Heute
stehen eine Reihe von Telefonaten in ihrem Kalender; Telefonate, die ihr
als Deutschlernende noch vor einigen Monaten panische Angst bereiteten.
Inzwischen sind ihre Sprachkenntnisse deutlich besser, aber noch immer
wurmt es sie, wenn ihr in Gesprächen mit Förder*innen die passenden
Worte fehlen. Denn hier geht es oft um Geld, das die Organisation
dringend braucht.
An Tagen wie heute fühlt sich die gebürtige Kurdin den zugewanderten Frauen, die sie berät, besonders nahe. Die wiederum sehen in Yilmaz-Schwenker ein Vorbild: eine Frau, die erfolgreich in Deutschland Fuß gefasst hat. Yilmaz-Schwenker möchte den Frauen vermitteln, dass auch sie das können. Also strafft sie die Schultern und greift zum Hörer.
„Als Projektleiterin mache ich mir Gedanken, ob ich große Projekte über einen längeren Zeitraum finanziert bekomme. Ich nehme unsere finanzielle Abhängigkeit sehr stark wahr und frage mich, wie ich mein Projekt so nachhaltig wie möglich aufstellen kann.“ (S. Yilmaz-Schwenker)
Einige Wochen später türmen sich Studien und Statistiken zu den Themen Flucht und Asyl auf den PHINEO-Schreibtischen. Rohm und Schmidt wissen jetzt nicht nur, was das Interessante am Thema ist, sondern auch wer: Sie haben mithilfe zahlreicher Expert*innen spannende Organisationen identifiziert und denen einen Fragebogen gesandt.
Hinter jeder einzelnen Adresse steht ein anderes Konzept das geflüchteten Frauen hilft: mal geht es um eine Rechtsberatung, mal Sprachförderung oder um psychosoziale Beratung. Jetzt warten sie auf all die ausgefüllten Fragebögen, die die Grundlage für die erste Analysestufe bilden.
„Viele Projekte, die mit der Förderung von Migrantinnen zu tun hatten, wurden 2015 gestartet. Oft mit einem tollen Konzept, aber unter Zeitdruck und dadurch mit wenig reflektierter Struktur. Diese Projekte wollten wir finden und unterstützen. “ (J. Rohm)
Das Büro von Selma Yilmaz-Schwenker ist leerer aus als sonst. Alles ist bereit für ihren Urlaub. Die Akten sind gestapelt, die Palme ein letztes Mal gegossen. Yilmaz-Schwenker will gerade ihren Computer herunterfahren, als eine neue E‑Mail am Bildschirmrand aufblinkt.
Der Absender PHINEO sagt ihr nichts, aber nach einem Überfliegen des ersten Absatzes ist ihr klar, dass diese E‑Mail wichtig ist. Ein Fragebogen soll ausgefüllt werden. Jemand muss sich darum kümmern! Eilig leitet sie die E‑Mail an den Vorstand weiter – und verabschiedet sich Richtung Flughafen.
„Uns war klar: Das Siegel ist wichtig. Aber wir fragten uns auch: Wie viel Arbeit kommt auf uns zu? Schließlich müssen wir das neben unseren Projekten im Alltag stemmen.“ (S. Yilmaz-Schwenker)
Fast
alle angeschriebenen Organisationen schicken den Fragebogen an PHINEO
zurück. Manche üben vorsichtig Kritik: Wie soll man die Arbeit mit
Menschen in Zahlen fassen? Oder bereits jetzt schon Erfolge nachweisen,
die frühestens in ein paar Jahren sichtbar werden?
Jacob Rohm entscheidet sich für ein direktes Gespräch mit einer von ihnen. Das Telefonat dauert länger als eine Stunde, aber Rohm weiß, dass er den technischen Begriff „Wirkungsorientierung“ gut erklären muss. Also versichert er der Projektmitarbeiterin, dass es PHINEO nicht um nackte Kennzahlen geht, sondern um die Wirkung des Projekts bei der Zielgruppe – in diesem Fall also um jede einzelne Teilnehmerin, die durch das Projekt erreicht wird.
Am Ende des Anrufs steht fest: Auch diese Organisation möchte sich für das Wirkt-Siegel bewerben.
„Auch Analysten sind Menschen mit einem Bauchgefühl. Wichtig ist, das Bauchgefühl durch Analysekriterien zu rationalisieren, um fair zu bewerten. Aber bevor man etwas analysieren oder bewerten kann, muss man es verstehen. Als Analyst geht es also erstmal darum, sich zu öffnen und zuzuhören. “ (J. Rohm)
Auch I.S.I.s Projekt hat es in
die zweite Analysephase geschafft! Jetzt geht es darum, die Finanzen
offenzulegen – doch Selma Yilmaz-Schwenker kann sich gerade nicht darum
kümmern, weil sie die Teilnehmerinnen eines neuen Kurses begrüßt, die in
den nächsten Wochen an ihren Businessplänen feilen. Dieser Termin ist
für sie eine Herzensangelegenheit.
25 unterschiedliche Kursmodule bietet I.S.I. an. Yilmaz-Schwenker und ihr Team begleiten jede einzelne Teilnehmerin, und das oft über mehrere Jahre. Yilmaz-Schwenker nimmt persönlich Anteil an dem Schicksal von allen Frauen hier. Das kostet Kraft, gibt ihr aber auch viel zurück. „Das hier ist mehr als ein Job!“, sagt sie immer, wenn Freundinnen sie fragen, wie sie der Belastung standhält.
„Einmal wurde eine Teilnehmerin kurz nach der Gründung arbeitsunfähig durch eine Krankheit. Das tut so weh, zu sehen, wie eine Frau so viel gemacht hat, so viel gearbeitet und sich getraut hat – und dann plötzlich nicht mehr weiterkann.“ (S. Yilmaz-Schwenker)
Rohm nimmt sich die Zeit und gibt allen, die es nicht in die nächste Runde geschafft haben, ein persönliches Feedback.
Schmidt bereitet derweil die Besuche bei den Organisationen vor, die noch im Rennen sind. Hunderte Kilometer werden Analyst*innen von PHINEO durch ganz Deutschland zurücklegen, um die Organisationen in der dritten Analysephase endlich auch persönlich kennenzulernen.
„Wenn ein Projekt es nicht in die nächste Runde schafft, heißt das nicht, dass es schlechte Arbeit macht. Sondern, dass es zum jetzigen Zeitpunkt eben nicht unseren Kriterien entsprechen konnte.“ (J. Rohm)
Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Gerade noch war Schmidt mit einer Kollegin bei I.S.I. und hat Yilmaz-Schwenker mit Fragen gelöchert, nun ist es Zeit für einen Gegenbesuch im Büro von PHINEO. Yilmaz-Schwenker ist eingeladen zu einem Workshop. Zusammen mit sieben Vertreter*innen anderer Organisationen diskutiert sie über Empowerment – den Ansatz, der alle ausgewählten Projekte im Themenfeld verbindet.
Yilmaz-Schwenker genießt den Austausch darüber, wie man Frauen befähigen und ihnen Hilfe zur Selbsthilfe geben kann. Rohm und Schmidt kann sie gute Hinweise und ehrliches Feedback zu deren ersten Erkenntnissen geben. Noch hat I.S.I. das Wirkt-Siegel nicht. Aber während sie nach einem aufregenden Nachmittag zur Bahnstation geht, denkt sie, dass sich die Reise schon jetzt gelohnt hat.
„Migrantinnen kommen aus Hoffnung – oder wie ich aus Liebe – hierher. Sie konnten wählen. Aber viele Geflüchtete wollen eigentlich gar nicht wirklich hier sein – und erst recht nicht bleiben. Da müssen wir mit unseren Projekten ganz andere Emotionen abfangen und anders motivieren.“ (S. Yilmaz-Schwenker)
Nach Wochen des Analysierens ändert sich heute die Rolle von Jacob Rohm und Andreas Schmidt. Jetzt müssen sie Rede und Antworten stehen, denn heute tagt die unabhängige Empfehlungskommission. Die Mitglieder der Empfehlungskommission arbeiten ehrenamtlich und sind nicht bei PHINEO angestellt, sondern kommen aus verschiedenen Sektoren.
Sie haben die Analyseergebnisse gelesen und diskutieren nun darüber, wer das Siegel erhält und wer nicht. Zwei Stunden später ist die Entscheidung gefallen. Rohm und Schmidt atmen auf: Alle Projekte sind diesmal durchgekommen!
Damit die Rechercheergebnisse nicht in der Schublade verschwinden, schreiben Rohm und Schmidt ihr Wissen auf, die Kommunikationsabteilung redigiert und der Grafiker gibt dem Projekt ein Gesicht. Wenige Wochen später stehen Kisten mit dem neusten Themenreport am Empfang des Büros. „FEMpowerment – Geflüchtete Frauen in Deutschland stärken“ strahlt die aufgeregten Kolleg*innen mit einem leuchtend-orangenen Cover an und wartet darauf, hundertfach quer durchs Land geschickt zu werden.
„Auch wir bei PHINEO lernen uns bei einem solchen Projekt besser kennen – als Kolleg*innen quer durch alle Abteilungen und als Organisation. Seit FEMpowerment hat das Thema Gender einen ganz neuen Stellenwert und wir haben Folgeprojekte daraus entwickelt.“ (J. Rohm)
Yilmaz-Schwenker schlüpft in ihren Blazer und verlässt ihr Büro Richtung Sharehouse Refugio, wo geflüchtete Menschen leben und arbeiten. Hier werden heute feierlich vor einem Publikum aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft im großen Saal die Wirkt-Siegel vergeben. Schon im Eingangsbereich trifft sie viele bekannte Gesichter, darunter auch Schmidt, Rohm und die Frauen, die sie beim PHINEO-Workshop kennengelernt hat. Aufregung liegt in der Luft.
Der Saal versinkt in Dunkelheit, während auf der Bühne zwei geflüchtete Frauen von ihrer Ankunft in Deutschland berichten. Zwei Stunden folgt Yilmaz-Schwenker konzentriert dem vollgepackten Programm und hört, was Fördernde und Politik zum Thema zu sagen haben. Dann kommt ihr Moment: Zusammen mit ihren Mitstreiterinnen wird sie auf die Bühne gebeten. Das Publikum klatscht laut und stolz hält sie ihr Siegel in der Hand, während eine Fotografin den Moment festhält.
„Die Veranstaltung war toll! Wir erhoffen uns, dass uns das Siegel bei der Akquise von Fördergeldern hilft. Denn durch viele personelle Ausfälle wünsche ich mir nichts mehr als ein vollständiges Team, das wir finanzieren können.“ (S. Yilmaz-Schwenker)
Im Nachgang zeigt sich, dass die CHANEL Stiftung, eine der Hauptförderinnen des Projekts, so beeindruckt von den Wirkt-Siegel-Projekten, dass sie zwei der Organisationen zusätzlich fördern möchte – eine davon ist I.S.I.! Aus diesem Grunde hält Jacob Rohm bei I.S.I. einen Workshop zum Thema Wirkungsorientierung – das Thema ist den Frauen wichtig, sie möchten ihr Angebot weiter verbessern. Deshalb haben sie sich dafür entschieden, die zusätzliche Förderung in ein überarbeitetes Monitoring und Evaluationssystem zu investieren.
Rohm wird sie in den nächsten Monaten bei der Entwicklung unterstützen. Nicht mehr als Analyst, sondern diesmal als Experte und Fördernder. Beide Seiten freuen sich auf die Zusammenarbeit, die Atmosphäre ist herzlich. Schließlich verfolgen alle dasselbe Ziel: Das Bestmögliche herauszuholen für die Frauen, die den Start in ein selbstbestimmtes Leben in Deutschland wagen!
„Ich habe höchsten Respekt davor, was Selma und die anderen Frauen im I.S.I.-Team leisten. Man merkt ihnen an, dass sie genau wissen, wovon sie reden und ihre Zielgruppe durch eigene Erfahrung als Migrantinnen genau verstehen.“ (J. Rohm)