Ukraine-Hilfe
Zukunft gestalten: Die neue Ukraine
Ein Debattenbeitrag von Alina Nosenko.
Alina Nosenko war fast 10 Jahre Geschäftsführerin der Kyiver Klitschko Foundation. Heute leitet sie den Bereich Strategische Kooperationen bei PHINEO. Als Expertin für die Zivilgesellschaft in der Ukraine weiß sie, was für die Menschen in der Ukraine und die im Ausland lebenden Ukrainer*innen wichtig ist. Die Zukunft der Ukraine und ihrer Menschen beginnt heute – und sie muss aktiv gestaltet werden.
Neue Narrative finden
Der russische Angriffskrieg auf mein Heimatland hat Millionen Menschen – Familien, Paare, Freundschaften, Kolleg*innen – auseinandergerissen und in alle Winde zerstreut. Wenn wir unseren Alltag heute und auch unsere gemeinsame Zukunft gestalten wollen, müssen wir uns fragen: Wie gehen wir damit um, dass manche in der Ukraine bleiben und andere ausgereist sind? Wie können wir die Gesellschaft zusammenhalten? Und wie können wir verhindern, dass auf den Krieg eine Gesellschaftskrise folgt? Meine Antwort: Wir brauchen eine positive Vision für die Gesellschaft während und ganz besonders nach Ende des Krieges. Diese zu entwickeln ist eine Aufgabe für die Gegenwart. Lasst uns dabei nicht zwischen Ausgereisten und Zurückgebliebenen trennen. Unterscheidungen wie diese führen zur Spaltung und sind für eine positive und verbindende Zukunftsvision wenig hilfreich.
Bei dieser Vision müssen wir alle Ukrainer*innen einbeziehen, auch jene, die sich dazu entscheiden, in anderen Ländern weiterzuleben. Etwa, weil ihre Heimatstädte nicht mehr so existieren, wie die Menschen sie einst kannten, so wie Mariupol oder Bachmut. Oder weil ihre Häuser und Wohnungen unwiederbringlich zerstört wurden. Welche Rolle werden sie in dieser Vision der Ukraine spielen? Wir sollten dafür sorgen, dass diese Menschen die ukrainische Identität nicht aufgeben müssen, sondern durch Kultur, Bildung und Sprache die Bindung zu ihrer Heimat weiter aufrechterhalten können.
Kultur weiterleben lassen
Der Krieg hat zahlreiche Kulturinstitutionen in der Ukraine zerstört, aber die Kultur selbst lebt natürlich weiter. Ich habe so oft gehört, dass Ukrainer*innen immer wieder den bekannten und beliebten Trickfilm „Mavka – Hüterin des Waldes“ anschauen – auch wenn sie selbst beim dritten Versuch nicht bis zum Ende kommen, weil ständig die Sirenen wegen möglicher Bombardierungen ertönen. Er ist ein Stück ihrer Heimat, ihrer Kultur und ihrer Herzen. Wenige internationale Akteure sprechen den kulturellen Aspekt des Wiederaufbaus offensiv an. Dabei ist die Kultur ein essenzieller Teil des ukrainischen Lebens, der für viele Ukrainer*innen auch in der Ferne wichtig ist.
Sprache fördern
Natürlich wird es auch viele Ukrainer*innen geben, die zurück nach Hause gehen werden oder schon jetzt zurückkehren. Deren Kinder beherrschen bereits ziemlich gut die Sprachen der Länder, in die sie geflüchtet sind. Das ist ein Asset, das für den Wiederaufbau der ukrainischen Wirtschaft verwendet werden muss. Das ukrainische Ministerium für Bildung sollte mehr internationale Programme etablieren, um diese Sprachkompetenzen zu fördern und die erworbenen Kenntnisse und Sprachfähigkeiten weiter auszubauen.
In Deutschland gibt es bereits gute Ansätze solcher Sprachförderungen. Im Oktober 2022 haben zwei Berliner Schulen damit begonnen, eine duale Schulbildung zu ermöglichen, bei der die Kinder einen deutschen und einen ukrainischen Abschluss erwerben können. Leider gibt es diese Möglichkeit bisher nur für die Klassen eins bis sechs. Ein weiteres positives Beispiel ist die Einstellung von ukrainischen Lehrkräften an deutschen Schulen: Maßnahmen wie diese wirken dem Fachkräftemangel in Deutschland entgegen, fördern interkulturelle Begegnungen und bringen Ukrainer*innen in Arbeit – eine Win-Win-Situatuion für alle Beteiligten. Ich halte es für sinnvoll, solche Ansätze auszubauen und auf ganz Deutschland ausweiten.
Partnerschaften ohne Grenzen bilden
Um das möglich zu machen, braucht es Reformen im Bildungswesen, in der Kultur, in der Infrastruktur sowie in der Digitalisierung von Prozessen. Dabei kann und muss die Zivilgesellschaft eine noch aktivere Rolle spielen. Dazu wiederum gewinnen neue – und vor allem grenzübergreifende – Partnerschaften zwischen Organisationen der Zivilgesellschaften in Deutschland und in der Ukraine an Bedeutung: Nicht nur für den intellektuellen Austausch und die Implementierung von Erfahrungen, sondern auch, um Projekte mit Zugängen zu finanziellen Fördermöglichkeiten der EU voranzubringen. Denn viele Ausschreibungen richten sich ausschließlich an Organisationen, die in der EU angesiedelt sind, ooder fordern zumindest eine länderübergreifende Partnerschaft.
Lokale Hilfsprogramme umsetzen
Mehr als ein Jahr nach Beginn des Krieges sind viele Ukrainer*innen noch immer unter sich und haben höchstens Kontakt zu anderen Geflüchteten, die sie während ihrer Integrationskurse kennenlernen. Eine echte Integration ist das nicht. Deshalb: Es muss deutlich mehr Austausch auf kommunaler Ebene geben. Begegenungsorte wie die Plattform Wiederaufbau Ukraine sind erste sinnvolle Schritte in die richtige Richtung, weitere werden folgen.
Die Dezentralisierungsreform in der Ukraine ermöglicht viele neue Partnerschaften mit Städten beider Länder. In Deutschland gibt es über 10.000 Kommunen. Jede*r Bürgermeister*in kennt die Unternehmen vor Ort und weiß, welche Innovationen, Waren oder Dienstleistungen der Ukraine zur Verfügung gestellt werden könnten, um den Wiederaufbau voranzutreiben. Sie können sich Programme überlegen, die den Austausch fördern: etwa mit Praktikumsstellen, um Deutsch zu üben, neue Freundschaften zu knüpfen, die deutsche Gesellschaft besser zu verstehen und sich sozial und kulturell zu integrieren.
Dieser Impuls wurde von Alina Nosenko am 18.4.2023 im Rahmen des Robert-Bosch-Dialogs gehalten, einem neuen internationalen Austauschformat für Entscheider*innen aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Das Treffen stand unter dem Titel „Was braucht die Ukraine? Von der Nothilfe zum Wiederaufbau“. (Foto: Björn Hänssler)
Wirtschaft in der Ukraine wirkungsvoll aufstellen
Die Wirtschaft der Ukraine steht unter enormem Druck. Die Kredite, die die Ukraine bekommt, steigen und werden die wirtschaftliche Situation des Landes noch Jahrzehnte prägen. Welche neuen Konzepte können wir aus der sozialen Marktwirtschaft – oder besser noch aus der Impact Economy – verankern, damit jedes Unternehmen und jede Organisation ihren Teil zur Lösung der Probleme beitragen kann, die im Zuge des Krieges entstanden sind? Im Neuaufbau der ukrainischen Wirtschaft liegt eine große Chance, wenn in vielen Bereichen künftig verstärkt auf die gesellschaftliche Wirkung geachtet wird.
Arbeitsmarkt vorbereiten
Der russische Angriffskrieg hat europa- und weltweit schwerwiegende ökonomische Folgen. Arbeitsmarkt und Wirtschaft in Deutschland müssen bereit sein, sich zu öffnen und umzustrukturieren, um eine neue und höchstwahrscheinlich enorm große Zielgruppe aufzunehmen. Darin liegt für alle Seiten aber auch eine große Chance. Um diese zu nutzen sollten wir rechtzeitig überlegen: Was braucht es für eine gelungene Implementierung? Wie können alle Seiten profitieren? Und von welchen Best Practises können wir von Partner*innen aus anderen Ländern lernen?
Einheitlichen Zahlungsverkehr sicherstellen
Noch immer können ukrainische Organisationen nicht von den Freiheiten des europäischen Bankensystems profitieren. Wenn zum Beispiel eine ukrainische Stiftung internationalen Expert*innen ein Honorar zahlen möchte, ist das nicht ohne weiteres möglich. Solche Zahlungen müssen bislang über europäische Partnerorganisationen abgewickelt werden. Die ukrainische Zivilgesellschaft braucht endlich einen Zugang zum europäischen Zahlungsverkehr. Um dies zu ermöglichen, muss sich jedoch zunächst die Ukraine selbst und vor allem deren Nationalbank öffnen und der Zivilgesellschaft ermöglichen, am internationalen Zahlungsverkehr teilzunehmen.
Inklusive Zivilgesellschaft in der Ukraine stärken
Von der Frontlinie kehren Soldaten nach Hause zurück, die im Krieg teils schwer verwundet wurden und für den Rest ihres Lebens beeinträchtigt sein werden. Sie werden neue Lebensorientierung und neue Ziele brauchen, um sich in der Gesellschaft wieder zurechtzufinden. Aber auch viele Zivilist*innen – vor allem Kinder – sind betroffen. Wir sollten uns also auch die Frage stellen: Wie inklusiv und barrierefrei ist die Infrastruktur in der Ukraine? Beim Wiederaufbau von Gebäuden sollte die Frage dagegen lauten: Wie inklusiv und barrierefrei kann die Infrastruktur werden? Der schreckliche russische Angriffskrieg gegen mein Land bringt viel Leid über die Menschen und stellt die Gesellschaft vor enorme Herausforderungen. Die Zivilgesellschaft ist ein unverzichtbarer Teil beim Wiederaufbau der Ukraine und einer friedlichen, sozial gerechten und lebenswerten Zukunft meines Heimatlandes.
Dieser Text wurde am 5.12.2023 aktualisiert.