Initiative Zukunftsträger
Bildungsmesse in Leipzig-Grünau: Schulabsentismus verstehen – gemeinsam handeln
Was passiert, wenn Jugendliche plötzlich nicht mehr zur Schule gehen? Wenn sie sich zurückziehen, Systeme versagen – und Chancen zerrinnen? In Grünau, einem Stadtteil von Leipzig mit besonderen sozialen Herausforderungen, ist genau das für viele junge Menschen Alltag. Schulabsentismus – ein sperriges Wort für ein komplexes Phänomen – betrifft hier besonders viele. Die Bildungsmesse Grünau von Zukunftsträger Leipzig hat sich dieser Realität gestellt. Nicht mit Hochglanzbroschüren, sondern mit echten Stimmen, ehrlichem Austausch und dem Versuch, sektorübergreifend etwas zu verändern.
In unserer Initiative Zukunftsträger koordiniert der gemeinnützige, freie Jugendhilfe-Träger HEIZHAUS den regionalen Verbund Leipzig und bringt Akteur*innen aus Schule, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und lokalem Hilfenetzwerk an einen Tisch, um Angebote für benachteiligte Jugendliche auf dem Weg von der Schule in Ausbildung und Beruf zu verknüpfen und weiterzuentwickeln.
Wenn der Anschluss verloren geht
„Ich bin irgendwann nicht mehr in die Schule gegangen. Meine Oma war gestorben, dann kam Corona. Der Unterricht war nur noch online … ich hab einfach den Ton ausgestellt und nebenbei gezockt. Ich hatte keine Motivation. Der Schulstoff war zu schwer – und wenn du nicht aufgepasst hast, war das dein Problem.“ Diese Geschichte eines Jugendlichen steht exemplarisch für viele junge Menschen in Leipzig-Grünau, die den Schulweg irgendwann verlassen.
Schulabsentismus – das klingt nach Regelverstoß, nach Schwänzen. Doch der Vortrag der Leipziger Wissenschaftlerin Hannah Wirths bei der Bildungsmesse macht deutlich: Es geht um weit mehr. Die Ursachen sind vielfältig: psychische Erkrankungen, familiäre Überforderung, schlechte Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen oder schlicht die fehlende Motivation, sich in einem System zu bewegen, das für viele nicht gemacht scheint. Die Folgen sind gravierend: soziale Isolation, geringe Bildungschancen, Perspektivlosigkeit.
Was hilft? Zuhören.
Genau da setzt die Bildungsmesse im Allee-Center Grünau an. Organisiert wurde sie vom Heizhaus Leipzig, der Leipziger Modellschule, StudyHall, dem Quartiersmanagement und dem Stadtschüler*innenrat. Unterstützt von der Universität Leipzig (Lehrstuhl für emotionale und soziale Entwicklung), der Dresdner Straßenschule und zehn weiteren Partner*innen entstand ein vielseitiges Programm mit Vorträgen, Lesungen, Panels – und einem „Markt der Möglichkeiten“, auf dem sich außerschulische Bildungsorte, Berufseinstiegsprojekte und Sozialträger präsentierten. Das Ziel: bessere Übergänge in Ausbildung und Beruf gestalten – und vor allem: die Jugendlichen wieder in den Mittelpunkt rücken.
„Ich habe mich sehr allein gefühlt“, erzählt eine Schülerin der siebten Klasse. Ihre Geschichte ist eine von mehreren, die an diesem Tag ungeschönt bei der Lesung „(Um-)Wege“ vorgetragen werden „Meine Eltern meinten, ich wäre nur faul – und irgendwann hab ich das selbst geglaubt. Ich hatte zwei Selbstmordversuche, Trost im Alkohol gesucht. Am Ende dachte ich: Ich bin sowieso auf mich allein gestellt.“
Eine andere Schülerin berichtet von vielfältigen Gründen, warum sie lange nicht in die Schule ging. „Am Anfang war es Mobbing, dann das unangenehme Gefühl, in der Klasse zu sitzen, weil der Klassenlehrer einen nur anschreit. Der Verlust von Freunden, wenig Motivation, um überhaupt aufzustehen am frühen Morgen. Probleme in der Familie, die erste große Liebe, Liebeskummer und eben psychische Probleme wie Depressionen.“ Schließlich bekam sie Unterstützung: „Mittlerweile gehe ich in das Projekt Schule? Sicher. Anders! Es ist eine tolle Unterstützung. Man kann mit den Leuten reden und sie hören zu und helfen dir.“
Die Reaktionen der Zuhörenden auf diese Einblicke? Betroffenheit. Und die Einsicht: Wir brauchen mehr davon. Mehr Perspektiven der Jugendlichen. Mehr Dialoge auf Augenhöhe.
Netzwerke stärken: Der „Markt der Möglichkeiten“
Ein Herzstück der Bildungsmesse ist der „Markt der Möglichkeiten“, bei dem sich Sozialträger, Bildungsinitiativen und Beratungsstellen präsentieren. Hier treffen Lehrer*innen auf Schulersatzprojekte, Schulsozialarbeitende auf Coaches aus der Jugendhilfe. Hier wird sichtbar, was jenseits der Klassenzimmer passiert – und passieren kann.
Wie auch schon bei der vergangenen Bildungsmesse 2022 zeigt sich, wie wichtig es ist, dass schulische und außerschulische Akteur*innen immer wieder Gelegenheit bekommen, bestehende und neue Angebote kennenzulernen und sich gegenseitig Updates zu geben. Im Sinne eines Collective Impacts arbeiten alle Beteiligten bewusst miteinander – um Bedarfe und Lücken zu erkennen, Doppelstrukturen zu vermeiden, Synergien zu nutzen und gemeinsam noch wirksamere Wege am Übergang Schule-Beruf zu gestalten.
Der Austausch funktioniert – auch, weil er niedrigschwellig ist. Im Einkaufszentrum. Zwischen Rolltreppe, dm und O2-Shop. Und mit Schüler*innen der Leipziger Modellschule als Guides durch die Panels. Das ist nicht nur sympathisch, sondern auch ein Statement.
Arbeitshilfen, Artikel und kostenlose Online-Kurse zum Thema der sektorübergreifenden Zusammenarbeit gibt’s auf unserer SKala Campus Lernplattform unter Kooperationen & Collective Impact.
Schulabsentismus ist ein Systemproblem
In der Sekundarstufe I zeigen laut Studien rund die Hälfte der Schüler*innen gelegentlich illegitime Schulversäumnisse. 3 – 4 % gelten als chronisch abwesend, erklärt Hannah Wirths von der Uni Leipzig in ihrem Vortrag. Und oft beginnt es früh: Bereits ab dem neunten Lebensjahr steigen die Fehlzeiten laut Statistiken messbar an. Die Gründe reichen von familiärer Belastung über Leistungsdruck bis zu Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen. Besonders betroffen sind bildungsbenachteiligte Quartiere – wie Grünau.
Dabei ist Schulabsentismus nicht nur ein individuelles, sondern ein strukturelles Problem. Wenn Jugendliche in der Schule fehlen, ist das oft das Ergebnis eines langen Prozesses. Und genau deshalb braucht es sektorübergreifende Netzwerke, die Verantwortung gemeinsam tragen und individuelle Unterstützung anbieten: Schule, Jugendhilfe, Sozialarbeit, aber auch Kultur- und Bildungsprojekte.
Mut machen, statt nur bewerten
Ein ehemals betroffener Schüler bringt es so auf den Punkt: „Hinter einem Schulabbruch steckt enorm viel Druck gesetzlicher, gesellschaftlicher und sozialer Natur. Schule verweigern kann gesetzliche Konsequenzen mit sich ziehen, es brechen Freundschaften weg, man wird zum Gespräch auf dem Schulflur und in der Nachbarschaft. Familiär können Konflikte entstehen und auch der finanzielle Druck wächst. Ich konnte in so jungen Jahren meine Gefühle schwer definieren und nicht ausdrücken, warum ich die Schule verweigere. Zukunftsorientiert konnte ich in diesen Momenten nicht denken und war dennoch sehr oft damit konfrontiert, dass was aus mir werden muss. Den Stempel des Schulabbrechens trug ich lange mit mir herum, ohne dass Menschen, oder auch ich selbst, hinter die Fassaden blickten.“
Ob ein Freiwilligendienst, eine Praktikumsstelle, ein Schulersatzprojekt oder einfach ein Mensch, der zuhört – oft reicht ein einzelner Impuls, damit sich etwas bewegt. Eine Schülerin erläutert, wie sie durch ein Freiwilliges Jahr nach ihrem Umzug und vielen Rückschlägen doch noch den Zugang zum Studium fand. „Ich habe gelernt, eigenständig zu arbeiten, Verantwortung zu übernehmen und mich besser zu organisieren.“ Heute studiert sie – nur eben nicht auf dem ursprünglich geplanten Weg.
Und jetzt?
Solche Stimmen machen deutlich: Es braucht andere Haltungen. Weniger Defizitorientierung. Mehr Ermöglichung. Mehr Raum für alternative Wege. Die Bildungsmesse hat das gezeigt – nicht mit fertigen Lösungen, aber mit einem wirkungsvollen Ansatz. Ein starkes Plädoyer für ein kollektives Verständnis von Bildung, das mehr umfasst als Schulnoten. Für mehr sektorübergreifende Kooperation, mehr Mut zur Lücke – und mehr Vertrauen in junge Menschen, die vielleicht nicht den direkten Weg gehen. Aber einen ganz eigenen. Und mit der passenden, individuellen Unterstützung kann er weit führen.
👉 Hier geht’s zur Website von Zukunftsträger Leipzig mit weiteren Infos zu Inhalten und Ergebnissen der Bildungsmesse.
Initiative Zukunftsträger
PHINEO hat die Initiative Zukunftsträger gemeinsam mit J.P. Morgan im Rahmen der „New Skills at Work Initiative” ins Leben gerufen.
Laufzeit: 2019 bis 2026
Gefördert durch:



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Katrina Zuchina
