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Initia­ti­ve Zukunftsträger

Bil­dungs­mes­se in Leip­zig-Grün­au: Schul­ab­sen­tis­mus ver­ste­hen – gemein­sam handeln

PHINEO-Redaktion,
22.04.2025

Was pas­siert, wenn Jugend­li­che plötz­lich nicht mehr zur Schu­le gehen? Wenn sie sich zurück­zie­hen, Sys­te­me ver­sa­gen – und Chan­cen zer­rin­nen? In Grün­au, einem Stadt­teil von Leip­zig mit beson­de­ren sozia­len Her­aus­for­de­run­gen, ist genau das für vie­le jun­ge Men­schen All­tag. Schul­ab­sen­tis­mus – ein sper­ri­ges Wort für ein kom­ple­xes Phä­no­men – betrifft hier beson­ders vie­le. Die Bil­dungs­mes­se Grün­au von Zukunfts­trä­ger Leip­zig hat sich die­ser Rea­li­tät gestellt. Nicht mit Hoch­glanz­bro­schü­ren, son­dern mit ech­ten Stim­men, ehr­li­chem Aus­tausch und dem Ver­such, sek­tor­über­grei­fend etwas zu verändern.

In unse­rer Initia­ti­ve Zukunfts­trä­ger koor­di­niert der gemein­nüt­zi­ge, freie Jugend­hil­fe-Trä­ger HEIZ­HAUS den regio­na­len Ver­bund Leip­zig und bringt Akteur*innen aus Schu­le, Wirt­schaft, Zivil­ge­sell­schaft und loka­lem Hil­fe­netz­werk an einen Tisch, um Ange­bo­te für benach­tei­lig­te Jugend­li­che auf dem Weg von der Schu­le in Aus­bil­dung und Beruf zu ver­knüp­fen und weiterzuentwickeln.

Wenn der Anschluss ver­lo­ren geht

Ich bin irgend­wann nicht mehr in die Schu­le gegan­gen. Mei­ne Oma war gestor­ben, dann kam Coro­na. Der Unter­richt war nur noch online … ich hab ein­fach den Ton aus­ge­stellt und neben­bei gezockt. Ich hat­te kei­ne Moti­va­ti­on. Der Schul­stoff war zu schwer – und wenn du nicht auf­ge­passt hast, war das dein Pro­blem.“ Die­se Geschich­te eines Jugend­li­chen steht exem­pla­risch für vie­le jun­ge Men­schen in Leip­zig-Grün­au, die den Schul­weg irgend­wann verlassen. 

Schul­ab­sen­tis­mus – das klingt nach Regel­ver­stoß, nach Schwän­zen. Doch der Vor­trag der Leip­zi­ger Wis­sen­schaft­le­rin Han­nah Wirths bei der Bil­dungs­mes­se macht deut­lich: Es geht um weit mehr. Die Ursa­chen sind viel­fäl­tig: psy­chi­sche Erkran­kun­gen, fami­liä­re Über­for­de­rung, schlech­te Bezie­hun­gen zwi­schen Lehr­kräf­ten und Schüler*innen oder schlicht die feh­len­de Moti­va­ti­on, sich in einem Sys­tem zu bewe­gen, das für vie­le nicht gemacht scheint. Die Fol­gen sind gra­vie­rend: sozia­le Iso­la­ti­on, gerin­ge Bil­dungs­chan­cen, Perspektivlosigkeit.

Was hilft? Zuhören. 

Genau da setzt die Bil­dungs­mes­se im Allee-Cen­ter Grün­au an. Orga­ni­siert wur­de sie vom Heiz­haus Leip­zig, der Leip­zi­ger Modell­schu­le, Stu­dy­Hall, dem Quar­tiers­ma­nage­ment und dem Stadtschüler*innenrat. Unter­stützt von der Uni­ver­si­tät Leip­zig (Lehr­stuhl für emo­tio­na­le und sozia­le Ent­wick­lung), der Dresd­ner Stra­ßen­schu­le und zehn wei­te­ren Partner*innen ent­stand ein viel­sei­ti­ges Pro­gramm mit Vor­trä­gen, Lesun­gen, Panels – und einem Markt der Mög­lich­kei­ten“, auf dem sich außer­schu­li­sche Bil­dungs­or­te, Berufs­ein­stiegs­pro­jek­te und Sozi­al­trä­ger prä­sen­tier­ten. Das Ziel: bes­se­re Über­gän­ge in Aus­bil­dung und Beruf gestal­ten – und vor allem: die Jugend­li­chen wie­der in den Mit­tel­punkt rücken.

Ich habe mich sehr allein gefühlt“, erzählt eine Schü­le­rin der sieb­ten Klas­se. Ihre Geschich­te ist eine von meh­re­ren, die an die­sem Tag unge­schönt bei der Lesung „(Um-)Wege“ vor­ge­tra­gen wer­den Mei­ne Eltern mein­ten, ich wäre nur faul – und irgend­wann hab ich das selbst geglaubt. Ich hat­te zwei Selbst­mord­ver­su­che, Trost im Alko­hol gesucht. Am Ende dach­te ich: Ich bin sowie­so auf mich allein gestellt.“

Eine ande­re Schü­le­rin berich­tet von viel­fäl­ti­gen Grün­den, war­um sie lan­ge nicht in die Schu­le ging. Am Anfang war es Mob­bing, dann das unan­ge­neh­me Gefühl, in der Klas­se zu sit­zen, weil der Klas­sen­leh­rer einen nur anschreit. Der Ver­lust von Freun­den, wenig Moti­va­ti­on, um über­haupt auf­zu­ste­hen am frü­hen Mor­gen. Pro­ble­me in der Fami­lie, die ers­te gro­ße Lie­be, Lie­bes­kum­mer und eben psy­chi­sche Pro­ble­me wie Depres­sio­nen.“ Schließ­lich bekam sie Unter­stüt­zung: Mitt­ler­wei­le gehe ich in das Pro­jekt Schu­le? Sicher. Anders! Es ist eine tol­le Unter­stüt­zung. Man kann mit den Leu­ten reden und sie hören zu und hel­fen dir.“

Die Reak­tio­nen der Zuhö­ren­den auf die­se Ein­bli­cke? Betrof­fen­heit. Und die Ein­sicht: Wir brau­chen mehr davon. Mehr Per­spek­ti­ven der Jugend­li­chen. Mehr Dia­lo­ge auf Augenhöhe.

Netz­wer­ke stär­ken: Der Markt der Möglichkeiten“ 

Ein Herz­stück der Bil­dungs­mes­se ist der Markt der Mög­lich­kei­ten“, bei dem sich Sozi­al­trä­ger, Bil­dungs­in­itia­ti­ven und Bera­tungs­stel­len prä­sen­tie­ren. Hier tref­fen Lehrer*innen auf Schul­er­satz­pro­jek­te, Schul­so­zi­al­ar­bei­ten­de auf Coa­ches aus der Jugend­hil­fe. Hier wird sicht­bar, was jen­seits der Klas­sen­zim­mer pas­siert – und pas­sie­ren kann. 

Wie auch schon bei der ver­gan­ge­nen Bil­dungs­mes­se 2022 zeigt sich, wie wich­tig es ist, dass schu­li­sche und außer­schu­li­sche Akteur*innen immer wie­der Gele­gen­heit bekom­men, bestehen­de und neue Ange­bo­te ken­nen­zu­ler­nen und sich gegen­sei­tig Updates zu geben. Im Sin­ne eines Coll­ec­ti­ve Impacts arbei­ten alle Betei­lig­ten bewusst mit­ein­an­der – um Bedar­fe und Lücken zu erken­nen, Dop­pel­struk­tu­ren zu ver­mei­den, Syn­er­gien zu nut­zen und gemein­sam noch wirk­sa­me­re Wege am Über­gang Schu­le-Beruf zu gestalten.

Der Aus­tausch funk­tio­niert – auch, weil er nied­rig­schwel­lig ist. Im Ein­kaufs­zen­trum. Zwi­schen Roll­trep­pe, dm und O2-Shop. Und mit Schüler*innen der Leip­zi­ger Modell­schu­le als Gui­des durch die Panels. Das ist nicht nur sym­pa­thisch, son­dern auch ein Statement.

Arbeits­hil­fen, Arti­kel und kos­ten­lo­se Online-Kur­se zum The­ma der sek­tor­über­grei­fen­den Zusam­men­ar­beit gib­t’s auf unse­rer SKa­la Cam­pus Lern­platt­form unter Koope­ra­tio­nen & Coll­ec­ti­ve Impact.

Schul­ab­sen­tis­mus ist ein Systemproblem

In der Sekun­dar­stu­fe I zei­gen laut Stu­di­en rund die Hälf­te der Schüler*innen gele­gent­lich ille­gi­ti­me Schul­ver­säum­nis­se. 3 – 4 % gel­ten als chro­nisch abwe­send, erklärt Han­nah Wirths von der Uni Leip­zig in ihrem Vor­trag. Und oft beginnt es früh: Bereits ab dem neun­ten Lebens­jahr stei­gen die Fehl­zei­ten laut Sta­tis­ti­ken mess­bar an. Die Grün­de rei­chen von fami­liä­rer Belas­tung über Leis­tungs­druck bis zu Gewalt- und Dis­kri­mi­nie­rungs­er­fah­run­gen. Beson­ders betrof­fen sind bil­dungs­be­nach­tei­lig­te Quar­tie­re – wie Grünau. 

Dabei ist Schul­ab­sen­tis­mus nicht nur ein indi­vi­du­el­les, son­dern ein struk­tu­rel­les Pro­blem. Wenn Jugend­li­che in der Schu­le feh­len, ist das oft das Ergeb­nis eines lan­gen Pro­zes­ses. Und genau des­halb braucht es sek­tor­über­grei­fen­de Netz­wer­ke, die Ver­ant­wor­tung gemein­sam tra­gen und indi­vi­du­el­le Unter­stüt­zung anbie­ten: Schu­le, Jugend­hil­fe, Sozi­al­ar­beit, aber auch Kul­tur- und Bildungsprojekte.

Mut machen, statt nur bewerten

Ein ehe­mals betrof­fe­ner Schü­ler bringt es so auf den Punkt: Hin­ter einem Schul­ab­bruch steckt enorm viel Druck gesetz­li­cher, gesell­schaft­li­cher und sozia­ler Natur. Schu­le ver­wei­gern kann gesetz­li­che Kon­se­quen­zen mit sich zie­hen, es bre­chen Freund­schaf­ten weg, man wird zum Gespräch auf dem Schul­flur und in der Nach­bar­schaft. Fami­li­är kön­nen Kon­flik­te ent­ste­hen und auch der finan­zi­el­le Druck wächst. Ich konn­te in so jun­gen Jah­ren mei­ne Gefüh­le schwer defi­nie­ren und nicht aus­drü­cken, war­um ich die Schu­le ver­wei­ge­re. Zukunfts­ori­en­tiert konn­te ich in die­sen Momen­ten nicht den­ken und war den­noch sehr oft damit kon­fron­tiert, dass was aus mir wer­den muss. Den Stem­pel des Schul­ab­bre­chens trug ich lan­ge mit mir her­um, ohne dass Men­schen, oder auch ich selbst, hin­ter die Fas­sa­den blickten.“

Ob ein Frei­wil­li­gen­dienst, eine Prak­ti­kums­stel­le, ein Schul­er­satz­pro­jekt oder ein­fach ein Mensch, der zuhört – oft reicht ein ein­zel­ner Impuls, damit sich etwas bewegt. Eine Schü­le­rin erläu­tert, wie sie durch ein Frei­wil­li­ges Jahr nach ihrem Umzug und vie­len Rück­schlä­gen doch noch den Zugang zum Stu­di­um fand. Ich habe gelernt, eigen­stän­dig zu arbei­ten, Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men und mich bes­ser zu orga­ni­sie­ren.“ Heu­te stu­diert sie – nur eben nicht auf dem ursprüng­lich geplan­ten Weg. 

Und jetzt?

Sol­che Stim­men machen deut­lich: Es braucht ande­re Hal­tun­gen. Weni­ger Defi­zit­ori­en­tie­rung. Mehr Ermög­li­chung. Mehr Raum für alter­na­ti­ve Wege. Die Bil­dungs­mes­se hat das gezeigt – nicht mit fer­ti­gen Lösun­gen, aber mit einem wir­kungs­vol­len Ansatz. Ein star­kes Plä­doy­er für ein kol­lek­ti­ves Ver­ständ­nis von Bil­dung, das mehr umfasst als Schul­no­ten. Für mehr sek­tor­über­grei­fen­de Koope­ra­ti­on, mehr Mut zur Lücke – und mehr Ver­trau­en in jun­ge Men­schen, die viel­leicht nicht den direk­ten Weg gehen. Aber einen ganz eige­nen. Und mit der pas­sen­den, indi­vi­du­el­len Unter­stüt­zung kann er weit führen.

👉 Hier geh­t’s zur Web­site von Zukunfts­trä­ger Leip­zig mit wei­te­ren Infos zu Inhal­ten und Ergeb­nis­sen der Bildungsmesse.

Initia­ti­ve Zukunftsträger

PHI­NEO hat die Initia­ti­ve Zukunfts­trä­ger gemein­sam mit J.P. Mor­gan im Rah­men der New Skills at Work Initia­ti­ve” ins Leben geru­fen.

Lauf­zeit: 2019 bis 2026

Geför­dert durch:

Wenn Sie Fragen haben:

Katrina Zuchina

Wirkungsanalyse & Organisationsentwicklung
+49 30 5200 65 388
katrina.zuchina@phineo.org